Das alte Leben gibt es nicht mehr
Das alte Leben gibt es nicht mehr
Schweinfurter Tagblatt, 09. August 2008
Die Sehnsucht versiegt nie
Der Sohn von Gudrun und Franz Schreiner war 19 Jahre alt, als er im März 2003 zu Hause an einem allergischen Schock starb. Die Sanitäter schirmten die Eltern ab, wollten ihnen eine Beruhigungsspritze geben, sie konnten ihren toten Sohn nur ganz kurz sehen. Die Tochter von Karin und Otto Bayer war 20 Jahre alt, als sie 2001 einen Motorradunfall nicht überlebte. Als die Eltern benachrichtigt wurden, war sie schon von der Unfallstelle weg gebracht. Erst am nächsten Tag konnten Bayers ihre Tochter in der Leichenhalle sehen.
Für beide Paare wäre es wichtig gewesen, an dem Ort bei ihren Kindern zu sein, an dem sie gestorben sind. „Eltern sollen selbst entscheiden können, ob sie zum Unfallort gehen, nicht Polizisten oder Ärzte“ – das ist eines der Anliegen, mit dem die Schweinfurter Selbsthilfegruppe „Verwaiste Eltern“ nun an die Öffentlichkeit geht.
Treffpunkt ist im Café des Museums Georg Schäfer, ein ruhiger Ort, ein guter Platz für das intensive Gespräch mit Eltern, die bereit sind, über ihren Verlust, aber auch über ihre Bedürfnisse und Anliegen zu reden. Anlass ist ein Flyer, den die 1996 gegründete Selbsthilfegruppe kürzlich herausgegeben hat, mit Unterstützung der Christian Presl-Stiftung Bad Kissingen, einer Beratungsstelle für Hinterbliebene von Unfallopfern.
Die Sehnsucht versiegt nie
Das blaue Faltblättchen mit den stilisierten Blumen und Schmetterlingen will aufmerksam machen auf die Arbeit der Selbsthilfegruppe, die sich jeden zweiten Montag im Monat trifft. Wer kommen will, ist willkommen, weder das Alter des verstorbenen Kindes noch der Zeitpunkt oder die Umstände des Todes spielen eine Rolle. Allen gemeinsam ist ein unsagbarer Schmerz und eine nie versiegende Sehnsucht, so haben es die Eltern formuliert. „Die Trauer hört nicht auf, aber sie verändert sich“, sagt Friedelinde Pohley, die die Gruppe viele Jahre zusammen mit der Gründerin Luzia Wölfing geleitet hat. 18 Jahre ist es her, dass ihre Tochter ermordet wurde. Kürzlich hat sie die Leitung an Karin Bayer übergeben, aussteigen will sie aber nicht, weil sie anderen zeigen möchte, dass ein neues Leben möglich ist. Das alte Leben freilich gibt es nicht mehr, das sagen alle Eltern an diesem Tag.
Was in dem geschützten Rahmen der Gruppe funktioniert – Reden, Zuhören, Verständnis für den Anderen – ist im Alltag oft schwierig. Auf einen Zettel haben die Eltern geschrieben, was ihnen wichtig ist. An erster Stelle steht: „Wir möchten die Umwelt sensibler machen gegenüber Trauernden“. Dann erzählen Bayers, Schreiners und Friedelinde Pohley Geschichten: von Bekannten, die ihnen aus dem Weg gegangen sind, von Floskeln wie „Ihr könnt doch noch ein Kind bekommen“.
Mehr Sensibilität gewünscht
Mehr Sensibilität wünschen sich die „Verwaisten Eltern“ auch von den Medien, die keine Unfallfotos veröffentlichen sollten, auf denen Opfer zu sehen sind und von den Ämtern, die mehr Zeit in gesetzliche Verfahren geben sollen. „Auch mit Polizisten, Ärzten und Priestern haben einige von uns schlechte Erfahrungen gemacht“, sagt Karin Bayer. Sie selbst hat gegen ihren Willen eine Beruhigungsspritze bekommen, als sie vom Tod ihrer Tochter erfahren hatte. Sie war im Schock, habe sich gar nicht so schnell wehren können. Alle haben die gleiche Erfahrung: „Psychopharmaka helfen nicht, sie stören den Trauerprozess.
Die Umwelt erwartet von Trauernden oft, dass sie nach spätestens einem Jahr zur Normalität zurück kehren. „Aber die gibt es nicht mehr“, sagt Lorita Weippert. Vor sieben Jahren hat sie ihren Sohn verloren. Er war erst sieben Jahre alt, als er innerhalb einer Woche an Leberkrebs starb – auf der Station Regenbogen der Uni-Klinik Würzburg. Sie selbst sei dort einfühlsam begleitet worden, bis heute gibt es Kontakt zur Seelsorgerin.
Jeder Betroffene, sagt sie, müsse den Weg in das neue Leben für sich gehen. Aber die Gruppe begleitet, gibt Halt, über die monatlichen Treffen hinaus. Die Eltern schreiben sich an den Gedenktagen, man telefoniert, spricht sich aus, unternimmt Ausflüge. Manchmal werden Referenten eingeladen, ein Notfallseelsorger war schon da, eine Buddhistin, ein Autor, der über Trauerarbeit geschrieben hat. Willkommen wäre noch ein Psychologe.
Am Ende des Gesprächs sagt Otto Bayer: „Die Zeit hält das Versprechen nicht, den Schmerz zu lindern. Aber wir lernen, damit umzugehen.“
Die Selbsthilfegruppe „Verwaiste Eltern“ trifft sich jeden zweiten Montag im Monat um 19 Uhr im Clubraum Gretel-Baumbach-Haus, Kornmarkt 24, in Schweinfurt. Kontakt: Karin Bayer, Dittelbrunn, Tel. (0 97 21) 41 53 4. Der Flyer der Gruppe wurde mitfinanziert von der Christian Presl-Stiftung Bad Kissingen, einem Netzwerk für Angehörige von Unfallopfern in der Region Main-Rhön, das von Maritta Düring-Haas aufgebaut wird. Gegründet wurde die Stiftung von der Familie von Christian Presl, der 2005 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Geboten wird: Trauerbegleitung, Vermittlung juristischer Beratung, Hilfe bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, Unterstützung und Vernetzung regionaler Gruppen.
(Foto / Verfasserin: Katharina Winterhalter)